Von Prof. Dr. Reinhard Thöle
Zeit und Ewigkeit
Für eine christliche Betrachtung der Geschichte ist es nicht ausreichend, diese im einfachen Sinne als ein Produkt politischer Entwicklungen und gesellschaftlicher Umstände zu betrachten, denn sie geht davon aus, dass im Hintergrund der weltlichen Geschichte stets auch die Heilsgeschichte steht. Verborgen und doch erfahrbar, verdeckt oder manchmal auch sichtbar, machtvoll und zugleich machtlos wie Christus am Kreuz, ereignet sich in den politisch-geschichtlichen Ereignissen dieser Welt die Geschichte Gottes mit Seinem Volk und mit der ganzen Welt. Diese Heilsgeschichte macht die Weltgeschichte durchsichtig für das Handeln Gottes und hat ihren Anfang, ihre Mitte und ihr Ziel in Gott. Wenn in den koptischen Gottesdiensten so häufig das „Doxa Patri…“ angestimmt wird, ist dieses der Lobgesang der Menschen in der Heilszeit für den Dreieinigen Gott. Sie hat ihren Anfang in der Schöpfung, ihre Mitte im Christus-Ereignis, und ihre Vollendung in den Ewigkeiten. Es ist ein gesungenes Zeitmodell. 
 
Zehn Jahre einer Diözese mögen in den Augen der Weltgeschichte eine kurze Zeit sein, wenn man aber in den Lobgesang der Heilsgeschichte einstimmt, weiß man, dass in den zehn Jahren die Diözese mit ihrem Kloster und den Gemeinden ein irdisches Gefäß für die unendlichen Ewigkeiten Gottes war. Die zehn Jahre waren wie ein Kelch der Zeit, in dem Christus selbst immer wieder in der Kraft des Heiligen Geistes Wohnung genommen hat. Darum müssen wir für diese zehn Jahre dankbar sein.
 
Identität und Aufgabe
Natürlich sind es vor allem die Aufgaben des Abtes, des Klosters und der Mönche, der Gemeindepfarrer und der Diener der Kirchen, die in Deutschland in der Zerstreuung lebenden koptischen Christen zu sammeln, die Spuren von Verletzungen und Wunden zu heilen, die das Verlassen der Heimat hinterlassen haben, und ebenfalls auch die Verbindungen unter den Familien zu stärken und das Leben der Einzelnen zu begleiten. 
 
Die Gottesdienste müssen in der Zerrissenheit von Diasporagemeinden und Heimatkirche doppelt trösten, doppelt heilen, doppelt segnen und doppelt erfreuen, und sie müssen auch für das alltägliche Leben in Deutschland stärken. Viele Hände von nunmehr mehreren Generationen der Kopten in Deutschland sind daran beteiligt. Die gemeinsame koptische Identität muss wiederhergestellt und gestärkt werden. Das sind die inneren Aufgaben und der innere Schatz der Kirche. 
 
Ein Blick von außen führt aber darüber hinaus. Schon wenn man als Besucher auf die Kirche und die Gebäude des Klosters in Kröffelbach schaut, weiß man sofort, dass dieses Kloster kein Provisorium oder eine Übergangslösung ist. Hier ist etwas entstanden, das die Zeiten überdauern soll, und das über sich selbst hinausweist. Hier kann man erahnen und erfahren, was der Vers aus Psalm 127 sagt: „Der Herr selbst muss das Haus bauen, sonst arbeiten die Bauleute vergeblich.“ Das gilt für das innere und äußere Bauprinzip von Kloster, Gemeinden und Diözese in gleicher Weise. Es ist der Wille und die Führung Gottes selbst. 
 
Wenn im letzten halben Jahrhundert mittlerweile ca. 12 000. Kopten und insgesamt mehr als 1,5 Millionen orthodoxe Christen nach Deutschland gekommen sind, ist das auch für unser Land und für die hier traditionell beheimateten evangelischen und katholischen Kirchen kein Zufall, sondern Gottes Wille. Orientalisch-orthodoxe Kirchen wurden nicht nur in eine neue Heimat geführt, sondern die neue Heimat bedarf ihrer auch. Ebenso benötigen die traditionell in Deutschland beheimateten Kirchen, die manchmal müde und problembeladen geworden sind, die neuen Kirchen. Diese sind eine Bereicherung für uns, und bringen neue Akzente in das kirchliche Leben in unserem Land. Die koptische Diaspora kann wie eine neue Aussaat der koptisch-christlichen Identität auf neue Felder angesehen werden. Alle Kirchen unterliegen gleichermaßen dem, was im Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld beschrieben wird: Sie müssen sich gemeinsam einem Echtheitstest unterziehen. Durch drei Viertel Mühen, Schwächen und Gewohnheiten müssen sie zur Freude des einen Viertels finden, auf dem Christus selbst Samenkörner wachsen lässt und die Ernte einbringt, sogar eigentlich selbst das Samenkorn ist. 
 
Das Zentrum der koptisch-orthodoxen Diözese Süddeutschland
Im Juni 2013 wurden für Deutschland zwei koptische Bistümer ins Leben gerufen: Das eine für das Kloster Brenkhausen an der Weser und die Gemeinden im norddeutschen Raum. Für dieses wurde Anba Damian als Diözesanbischof inthronisiert, für das Kloster Kröffelbach und den süddeutschen Raum  Anba Michael. 
Diese Errichtung löste die vorher bestehende pastorale Hilfskonstruktion ab, gemäß welcher die Gemeinden in der Diaspora dem koptischen Papst selbst unterstellt waren, der die notwendig gewordenen bischöflichen Tätigkeiten aber einem Weihbischof mit dem Titel „Generalbischof“ übertrug. Die seit den 1960er Jahren in Deutschland zerstreut lebenden Kopten wurden zunächst von Bischof Samuel († 1981) betreut. Die ersten offiziellen Gemeinden entstanden seit 1975 an mehreren Orten durch die Tätigkeit des von Papst Shenouda III († 2012) für Deutschland entsandten Erzpriester Salib Sourial († 1994). Das Wachstum der Gemeinden führte dann letztlich zur Gründung der beiden Bistümer.
 
Auch wurden im Jahr 1980 zwei Mönche aus dem Baramous-Kloster im Natrontal entsandt, um in Deutschland ein Kloster zu errichten. 
 
Einer von ihnen war der jetzige Anba Michael. Es entstand das St.- Antonius-Kloster als Herz des „Koptischen Zentrums“, das Schritt für Schritt ausgebaut werden konnte. Das äußere Wachstum der Klosteranlage bezeugt das innere Wachstum der Mönchsgemeinschaft, zu der heute 13 Mönchspriester, 4 Mönche und 5 Novizen gehören. Auch Anba Damian war Postulant im St. Antonius-Kloster. 
Das Koptische Zentrum strahlt über die Grenzen der Diözese in Süddeutschland hinaus und ist ein Ziel für koptische Pilger aus ganz Westeuropa. Man bleibt jedoch seiner Heimatkirche stets eng verbunden. So wurde das Kloster im Jahr 2013 durch Papst Tawadros II. besucht und durch Besuche vieler Hierarchen gewürdigt. 
 
Das St.-Antonius-Kloster beherbergt auch das „Theologie-Kolleg“, welches 2002 gegründet wurde, und an dem bis heute 135 Absolventinnen und Absolventen graduiert werden konnten. Die meisten von ihnen sind heute in ihren Gemeinden als Sonntagsschullehrerinnen und -lehrer tätig. Zwanzig ehemalige Kollegiaten wurden für Gemeinden in Deutschland, Österreich, der Schweiz, in Belgien, Frankreich und Großbritannien zum Priesteramt geweiht. Zur Unterstützung des „Theologie-Kollegs“ wurde eine umfangreiche Bibliothek errichtet. 
 
Das Kloster ist auch Sitz eines Verlages für koptische pastorale Literatur in arabischer und deutscher Sprache, sowie für die Zeitschrift St. Markus. 
 
In Kröffelbach konnten mehrere ökumenische Tagungen und Seminare abgehalten werden, darunter ein Symposium der namhaften ostkirchenkundlichen Stiftung „Pro Oriente“.  In Krisenzeiten öffnete das Kloster seine Tore für verfolgte Christen nicht nur aus Ägypten, sondern auch aus dem Sudan, Eritrea, Syrien und der Ukraine.
 
Ein koptisch-orthodoxes Modell der Kirchenleitung
In der koptischen Diözese Süddeutschland kommt ein orthodoxes Modell von Kirchenleitung exemplarisch zum Tragen, welches für die kirchliche Landschaft in Deutschland und seine traditionellen Kirchen mit seinen besonderen Akzenten beachtenswert ist. Etwas plakativ und vereinfachend könnte man diese
Besonderheit folgendermaßen beschreiben:
Die katholischen Bistümer werden von zölibatär lebenden Bischöfen, die auch Ordensangehörige sein können, geleitet. Die evangelischen Landeskirchen werden von Theologen und Theologinnen repräsentiert, die zumeist verheiratet sind oder waren. 
 
Bei den westlichen Kirchen scheinen die Rechtsstrukturen und die Verwaltungsaufgaben eine ebenso wichtige Rolle zu spielen, wie ihre in Hirtenbriefen, Denkschriften und Verlautbarungen kundgegebenen inhaltlichen Akzentuierungen. Sie sind bemüht, in Schule, Kultur und im sozialen Bereich eng mit staatlichen Stellen nach dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip zusammenzuarbeiten.   Sie wollen ihre Rolle in der Gesellschaft erhalten, wollen mit Strukturreformen auf Veränderungen reagieren, und in einer Art missionarischem Service-Konzept für die Zeitgenossen interessant bleiben. Anders ist es in der orientalisch-orthodoxen Tradition. Gemäß dem koptischen Brauch wird der Bischof dem Mönchsstand entnommen, ist dann manchmal Abt eines Klosters und Bischof einer Diözese zugleich. Die Koptische Kirche folgt damit dem Ideal des Primates des geistlichen Lebens. Eigentlich sollen die Gemeinden mit dem Gebetsleben der Klöster aufs Engste verbunden sein, sich von den geistlichen Vätern und Müttern der Klöster leiten lassen, und die geistlichen Haltungen, die das Mönchtum einübt, annehmen. Die Klöster sind Bewahrerinnen der umfassenden Gebetstradition und geistlichen Praxis, die in den Kirchengemeinden so nicht möglich ist. 
 
Vom klösterlichen Leben und von den Strukturen, die sich dort entwickeln, versuchen die Kirchen, ihren Dienst in der Gesellschaft zu leben. Es ist eine Art eschatologische Distanz. Dabei muss natürlich mitbedacht werden, dass die Koptische Kirche als Minderheit in einer muslimisch geprägten Gesellschaft, die auch Fanatikern Lebensräume gibt, aufgrund ihrer Erfahrungen der Gesellschaft gegenüber eher mit Distanz und einem Schutzbedürfnis reagiert. Papst Tawadros II. wird nicht müde, die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche zu betonen.
 
Das Kloster und der Abtbischof bezeugen in der koptischen Tradition, dass die Suche nach Gott, die verschlüsselte Begegnung mit Ihm in den Gottesdiensten, die Haltungen von Demut, Geduld, Vergebung, Liebe und Hingabe die eigentlichen geistlichen „Management“-Faktoren des kirchlichen Lebens sind und zum Glück des christlichen Lebens führen. Das ständige Herzensgebet und das Bemühen um die Reinheit des Herzens gehören dazu, wie auch das Befolgen einer strengen Fastenordnung. Das Kloster trägt die Mühen und Lasten der Welt, bringt sie vor Gottes Angesicht und erfreut sich an den Früchten des Glaubens der Gläubigen in der Welt. 
 
Der erste Bischof der Koptisch-Orthodoxen Diözese für Süddeutschland und Vater der Mönchsfamilie des St.-Antonius-Klosters in Kröffelbach ist der 1942 in Qalyubia im Nildelta in Ägypten geborene und 1978 im Baramous-Kloster im Natrontal zum Mönch geweihte Anba Michael. Im bürgerlichen Leben studierte er Betriebswirtschaft und war einige Zeit an einer Bank tätig. Sein Theologiestudium absolvierte er in Kairo. Papst Tawadros II. konsekrierte ihn am 16. Juni 2013 für das Bischofsamt. 
 
Anba Michael kann in diesem Jahr auf 43 Jahre Tätigkeit in Deutschland zurückschauen, darunter auf 10 Jahre im bischöflichen Dienst. Er ist echtes koptisches Urgestein. Seine Sorgen, Enttäuschungen und Mühen, seine Freuden und sein Glück als Mönch und als Bischof zu ermessen, bleiben uns verwehrt. Sie gehören in den Bereich der Ewigkeit. Eine Laudatio auf ihn zu schreiben würde sich lohnen. Er würde dieses aber aus Demut von sich weisen. So sei hier lediglich ein koptisches Segenswort zitiert: „Gott verewige sein Priestertum und setze ihn für viele Jahre und für lange Zeiten auf seinen Thron“. Trotzdem ist es richtig und geziemt es sich, den Dank für zehn irdische Jahre der Koptisch-Orthodoxen Diözese Süddeutschland, sowie für die langjährige Tätigkeit ihres Bischofs und Abtes Michael auszusprechen und vor Gottes Angesicht zu tragen. Und es darf auch Freude und eine Spur von Stolz dabei sein. Dem Koptisch-Orthodoxen Bistum Süddeutschland, seinem Abtbischof Michael, seinen Gemeinden und dem Kloster, sowie allen Dienenden und Gläubigen wünschen wir Gottes Segen auf viele weitere Jahre. 
 
Prof. Dr. R. Thöle überreicht S. E. Bischof Anba Michael eine Dankurkunde für die Organisation eines mehrtägiges koptisch-evangelischen Seminars für seine Theologiestudenten im St.-Antonius-Kloster in Kröffelbach-Waldsolms